Wilhelm Müller liegt im Grab Nr. 21 auf dem einstigen ‚Neuen Begräbnisplatz‘ (heute ‚Historischer Friedhof‘) von Dessau, gemeinsam mit seiner Frau Adelheid und der Antwort auf eine Frage, an der sich Historiker die Zähne ausbeißen …
Als er am 1. Oktober 1827 in der Stadt an Mulde und Elbe starb – gerade mal 33 Jahre, nachdem er ebenda das Licht der Welt erblickt hatte –, war er sich wohl kaum bewusst, dass die Nachwelt überhaupt nach dieser Antwort verlangen würde. Es geht um seinen Zyklus ‚Die Winterreise‘, genauer gesagt: um den mit ‚Der Lindenbaum‘ überschriebenen Abschnitt, der durch die Vertonung nach des Dichters Tod als Volkslied weltbekannt wurde. „Am Brunnen vor dem Tore/da steht ein Lindenbaum“ heißt es in den ersten beiden Zeilen, und die Frage ist, ob Müller bei diesem Motiv ein reales Vorbild hatte.
Inspiration im heutigen Bad Sooden-Allendorf?
In Bad Sooden-Allendorf (BSA) kennt man die Antwort: Wilhelm Müller soll hier inspiriert worden sein, heißt es.
Als die Linde am Zimmersbrunnen im heutigen BSA in der Nacht des 12. Mai 1912 durch ein Hagelunwetter zerstört wurde, berichteten viele Zeitungen des Reichs darüber; Gesangvereine ließen sich Stücke des mächtigen Stamms schicken, gewissermaßen als Reliquie. Am 17. März 1913 wurde eine neue Linde an den ursprünglichen Standort gesetzt, begleitet von mehr als 500 Menschen, die gemeinsam Müllers „Der Lindenbaum“ intonierten. Die Legende hält sich hartnäckig; noch immer besuchen zahllose Gesangvereine diesen Ort, um dort jenes Lied zu singen. Wie kamen Menschen überregional zu der Annahme, dass Müller in BSA war und hier inspiriert wurde? Die tatsächliche Antwort hat der Dichter wohl für immer mit ins Grab genommen. Es gibt jedoch Indizien …
Er soll gelegentlich auf der einstigen Handelsstraße von Frankfurt nach Lübeck unterwegs gewesen sein, an der sich das genannte Motiv findet, und diese Straße führte durch das heutige BSA (früher schlicht ‚Allendorf‘). Die Heimatkundler dieser Stadt – meiner Heimatstadt – werden nicht müde, bei Stadtführungen zu erwähnen, dass Müller sogar ganz sicher auf dieser Straße reiste, nämlich des öfteren zwischen Dessau und Worms, und folglich auch an Allendorf vorbeigekommen sein muss. Direkt an dieser Straße, vor dem südlichen Stadttor von BSA, steht der ‚Zimmersbrunnen‘ – ein Brunnen vor dem Tore. Und vormittags, wenn die Sonne im Osten steht, wirft ein Lindenbaum seinen Schatten auf diesen Brunnen.
Fakten und Fiktion
Ich weiß nicht, wie man in BSA ohne den Glauben an besagte Legende aufwachsen kann, kenne aber andere ‚Eingeborene‘, die diesen nicht entwickelt oder später verloren haben – so wie man irgendwann nicht mehr an den Weihnachtsmann oder Osterhasen glaubt. Ich jedenfalls habe ihn mir erhalten. Fakt ist: Man kann weder beweisen, dass Müller in Allendorf, noch, dass er es nicht war.
Fakten sind das eine, Fiktion ist etwas anderes. Ich wollte der Legende ein Denkmal setzen und stellte mir die Frage, wie ein Besuch von Wilhelm Müller in meiner Heimatstadt wohl ausgesehen haben mochte. Das Ergebnis: Eine Comicnovelle bzw. Graphic Novella, die ich nun in einem 88 Seiten starken Hardcover-Buch veröffentlicht habe („Der Lindenbaum“, Martin Schülbe Verlag, ISBN: 978-3-910330-00-9).
In der Erzählung reist Wilhelm Müller im Spätherbst 1816 durch das Kurfürstentum Hessen, in dessen Nordosten – in Allendorf an der Werra – er aus der Kutsche steigt, weil der Kutscher eine Pause macht. Unter der dortigen Linde schläft er ein, verpasst daher die Weiterfahrt und muss drei Tage lang in der Stadt bleiben, um auf die nächste Gelegenheit zur Weiterreise zu warten. Der Aufenthalt beschert ihm neben einer kurzen Liebschaft auch überfällige Selbsterkenntnis und Inspiration …